Im Grunde war ich ein
Scheißkind.
Eines, das sich Eltern nicht wünschen; eines, das zumindest ich mir nicht wünsche.
Ich muss 14 oder 15 gewesen
sein, da entdeckte ich die Industriebrachen für mich. Im Ruhrgebiet,
unserem einstigen Schmelztigel aus DAB, Pütt und Straßenbahn, gibt
es ja bis heute genug davon.
Manchmal mit Freunden, meist
allein, schlüpfte ich durch aufgeknipste Maschendrahtzäune und
huschte über aufgeplatzten Asphalt, aus dem Grasbüschel und Birken
wucherten. Auf Zehenspitzen schlich ich durch leere Lichthallen, in
denen der Staub in den Sonnenstrahlen tanzte, tastete mich entlang
rostiger Spinte durch dunkle Lohnbüros und verwaiste Kauen … und
hielt den Atem an, wenn von irgendwo ein dumpfes Knallen durch die
Backsteingemäuer hallte und von einem Dämon kündete, der sich tief
in den Eingeweiden dieser Gebäude verkrochen hatte.
Oft führte mich mein Weg
entlang der blanken Gleise, über die sich der Schatten der A43 wie
ein dunkles Laken gelegt hatte. Einen Zug, den hört man
normalerweise kommen; den sieht man.
Diesen einen nicht.
Gedankenverloren überquerte
ich das erste Schotterbett, dann das zweite. Schließlich blieb ich
einen Augenblick lang auf den Schwellen stehen, weil ich etwas im
Auge hatte. Mit einem Mal riss ich den Kopf nach oben und wurde
geblendet von den grell leuchtenden Strahlern einer gewaltigen
Zugmaschine, die auf mich zu donnerte.
Mit aller Kraft sprang ich
nach vorn, schloss die Augen … und stürzte kopfüber die Böschung
hinab. Die Lok hatte mich am Rucksack erwischt. In der Senke kam ich
zum Liegen. Über mir dröhnte der Güterzug.
Meinem Vater rann in diesem
Augenblick der Schweiß über den Rücken, denn er kloppte Steine –
tausend Meter unter der Erde, fast 100 Kilometer von Zuhause
entfernt. Wer weiß: Vielleicht hat er in diesem Moment an mich
gedacht; hat sich Sorgen gemacht – ich habe ihn das nie gefragt.
Ja, ich war ein Scheißkind.
Als mein Eltern darum bangten,
dass die Zeche dichtmachen würde, der Brotjob am seidenen Faden
hing, zuckte ich nur mit den Schultern. Als mein Vater mich ermahnte,
endlich für die Schule zu lernen, schlug ich meine Zimmertür zu –
sein Lebensentwurf passte nicht zu meinem. Als er mich aufforderte,
pünktlich nach Hause zu kommen, habe ich ihn unzählige Male warten
lassen. Aber wenn ich dann nach Mitternacht sturzbetrunken auf der
Matte stand, wich sein Zorn schnell einem milden Lächeln. Er sagte
dann etwas wie »Mach das nie wieder!«, meinte aber: »Ich bin froh,
dass du wieder da bist!«
Heute bin ich selbst Vater –
und es graut mir davor, dass meine Kinder in dieser Hinsicht auch nur
ein Quäntchen von mir geerbt haben. Man sagt, an der Undankbarkeit
seiner Kinder erkenne man die Liebe der eigenen Eltern. Da ist was
dran.
Mein Vater und ich – wir
haben noch immer unsere Differenzen. Aber er hat mir verziehen. Und
auch wenn er bald einen Kopf kleiner sein dürfte als ich, sehe ich
erst heute, wie groß er eigentlich ist. Ich sehe zu ihm auf, wie man
es nur zu einem Vater tun kann.
Papa, ich liebe dich von
ganzem Herzen!
Vielleicht war die Art und
Weise, wie ich dieses Verhältnis in meiner Jugend erlebt habe, ein
unbewusster Antrieb für meinen ersten Roman, in dem es ebenfalls um
eine schwierige Beziehung zwischen Vater und Sohn geht – wer weiß.
Während sich meine Geschichte zum Guten gewendet hat, endet der
Roman allerdings – so viel sei verraten – unheilvoll ...