Dienstag, 9. Mai 2017

Warum ich heute zu meinem Vater aufsehe

Im Grunde war ich ein Scheißkind.

Eines, das sich Eltern nicht wünschen; eines, das zumindest ich mir nicht wünsche.

Ich muss 14 oder 15 gewesen sein, da entdeckte ich die Industriebrachen für mich. Im Ruhrgebiet, unserem einstigen Schmelztigel aus DAB, Pütt und Straßenbahn, gibt es ja bis heute genug davon.

Manchmal mit Freunden, meist allein, schlüpfte ich durch aufgeknipste Maschendrahtzäune und huschte über aufgeplatzten Asphalt, aus dem Grasbüschel und Birken wucherten. Auf Zehenspitzen schlich ich durch leere Lichthallen, in denen der Staub in den Sonnenstrahlen tanzte, tastete mich entlang rostiger Spinte durch dunkle Lohnbüros und verwaiste Kauen … und hielt den Atem an, wenn von irgendwo ein dumpfes Knallen durch die Backsteingemäuer hallte und von einem Dämon kündete, der sich tief in den Eingeweiden dieser Gebäude verkrochen hatte.

Oft führte mich mein Weg entlang der blanken Gleise, über die sich der Schatten der A43 wie ein dunkles Laken gelegt hatte. Einen Zug, den hört man normalerweise kommen; den sieht man.

Diesen einen nicht.

Gedankenverloren überquerte ich das erste Schotterbett, dann das zweite. Schließlich blieb ich einen Augenblick lang auf den Schwellen stehen, weil ich etwas im Auge hatte. Mit einem Mal riss ich den Kopf nach oben und wurde geblendet von den grell leuchtenden Strahlern einer gewaltigen Zugmaschine, die auf mich zu donnerte.

Mit aller Kraft sprang ich nach vorn, schloss die Augen … und stürzte kopfüber die Böschung hinab. Die Lok hatte mich am Rucksack erwischt. In der Senke kam ich zum Liegen. Über mir dröhnte der Güterzug.

Meinem Vater rann in diesem Augenblick der Schweiß über den Rücken, denn er kloppte Steine – tausend Meter unter der Erde, fast 100 Kilometer von Zuhause entfernt. Wer weiß: Vielleicht hat er in diesem Moment an mich gedacht; hat sich Sorgen gemacht – ich habe ihn das nie gefragt.

Ja, ich war ein Scheißkind.

Als mein Eltern darum bangten, dass die Zeche dichtmachen würde, der Brotjob am seidenen Faden hing, zuckte ich nur mit den Schultern. Als mein Vater mich ermahnte, endlich für die Schule zu lernen, schlug ich meine Zimmertür zu – sein Lebensentwurf passte nicht zu meinem. Als er mich aufforderte, pünktlich nach Hause zu kommen, habe ich ihn unzählige Male warten lassen. Aber wenn ich dann nach Mitternacht sturzbetrunken auf der Matte stand, wich sein Zorn schnell einem milden Lächeln. Er sagte dann etwas wie »Mach das nie wieder!«, meinte aber: »Ich bin froh, dass du wieder da bist!«

Heute bin ich selbst Vater – und es graut mir davor, dass meine Kinder in dieser Hinsicht auch nur ein Quäntchen von mir geerbt haben. Man sagt, an der Undankbarkeit seiner Kinder erkenne man die Liebe der eigenen Eltern. Da ist was dran.

Mein Vater und ich – wir haben noch immer unsere Differenzen. Aber er hat mir verziehen. Und auch wenn er bald einen Kopf kleiner sein dürfte als ich, sehe ich erst heute, wie groß er eigentlich ist. Ich sehe zu ihm auf, wie man es nur zu einem Vater tun kann.

Papa, ich liebe dich von ganzem Herzen!

Vielleicht war die Art und Weise, wie ich dieses Verhältnis in meiner Jugend erlebt habe, ein unbewusster Antrieb für meinen ersten Roman, in dem es ebenfalls um eine schwierige Beziehung zwischen Vater und Sohn geht – wer weiß. Während sich meine Geschichte zum Guten gewendet hat, endet der Roman allerdings – so viel sei verraten – unheilvoll ...